Zürichsee-Zeitung 5.6.2001



Töne packen und durchkneten

Ein Hauch von Paris wehte am vergangenen Freitag durch das ausverkaufte Theater Ticino. Der Auftritt der stimmkräftigen Französin Clara Moreau, ihres Zeichens Chanteuse-Accordéoniste, überzeugte mit einem breiten Repertoire an Chansons. Die erstmalige Zusammenarbeit mit einem Begleittrio erwies sich als Bereicherung mit Entwicklungspotenzial.
So unvermittelt wie Clara Moreau am Freitag ins Scheinwerferlicht trat und die Stimme erhob zu einer intimen und ergreifenden Version von Jacques Brels "Ces gens là", so geradlinig und von Herzblut geprägt ist auch ihr Zugang zur facettenreichen Welt des französischen Chansons. Von andächtiger Stille umgeben, bahnt sie sich allmählich ihren Weg durch die Zuschauerreihen in Richtung Bühne, sich selbt mit dem umgehängten Akkordeon begleitend.

Pathos und Sebstbeschränkung

Mit ihrer kräftigen, rauen Stimme "packt" Moreau die Chansons, sie knetet die Töne, gibt sich ihnen hin. Dabei leistet sie stimmliche Schwerstarbeit. Sie scheut sich nicht, bisweilen ausserordentlich kräftige Akzente zu setzen. Selbst dann, wenn die Sängerin auf ihrer musikalischen Reise der Schwermut begegnet, läuft sie niemals Gefahr, ins Süssliche abzugleiten. Stets übt die 39-Jährige wohl dosierte Zurückhaltung.
Der Mut zum Pathos, gekoppelt mit einem untrüglichen Gefühl für Selbstbeschränkung an intimen Stellen - genau das ist es, was diese Musik verlangt. Nur so werden die reizvollen Spannungsbögen dieser Chansons deutlich, ohne dass das dramatische Element überhand zu nehmen und damit in die niederen Gefilde honiggetränkten Kitsches abzugleiten droht.




Ein Abstecher nach Argentinien

Clara Moreau wurde 1962 als Kind einer Spanierin und eines Frazosen in Paris geboren. Dass die Absolventin der renommierten Pariser Sorbonne nicht nur französische Chansons, sondern auch einige spanische und italienische Lieder in ihr Repertoire aufgenommen hat, mag also mit ihren verzweigten Wurzeln zu tun haben.
Eindrucksvoll geriet im Ticino insbesondere der musikalische Abstecher nach Argentinien: Mit einer berückenden Interpretation der "Balada para un loco" erwies sie Astor Piazolla, dem Nestor des Tango Nuevo, ihre Reverenz.
Zum Gelingen dieses rein akustischen Konzerts trugen indes nicht zuletzt die Begleitmusiker Marino Bernasconi (Klavier), Andreas Ochsner (Cello) und Mario Marchisella (Schlagzeug) bei. Das Trio, welches anfangs des Jahres bereits im Zappa-Projekt des Zürcher Theaters am Neumarkt mitwirkte, erarbeitete für diesen Abend ganz hervorragende Arrangements. Diese bestechen durch Ideenreichtum, Witz (wie den eunuchenhaften Backgroundchören), zugleich aber durch angemessene Zurückhaltung. So wurde der erste Auftritt dieser Formation zu einem wahrhaft herzerfrischenden Erlebnis.

Musikalische Authentizität

Die 39-jährige Moreau hat einen durchwegs ehrlichen, unverwechselbaren Zugang zu den französischen Chansons gefunden. Ihre Interpretationen erscheinen als Ausdruck höchster künstlerischer Individualität. Wenn sie jeweils in leicht holprigem Deutsch, dafür mit leuchtenden Augen in die Lieder einführte, offenbarte sich die Authentizität und das Herzblut dieser Chanteuse-Accordéoniste. Auf ihre weiteren Auftritte, vor allem auch in dieser Formation, darf man gespannt sein.


Reto Heinzel